Frage: Ivan, Sie sind Bergsteiger aus Bulgarien. Können Sie uns erzählen, welche Berge Sie während Ihrer Touren besucht haben?

Ivan: Vor vielen Jahren bin ich während fünf aufeinanderfolgender Sommer in die Alpen gereist und habe dort 18 Gipfel bestiegen, darunter Montblanc, Dufourspitze, Bernina, Großglockner, Finsteraarhorn, Dom du Mischabel usw. Ich war auch auf dem Pico del Teide auf den Kanarischen Inseln. In den letzten 12 Jahren habe ich jedoch alle Balkanberge und die gesamte Balkanhalbinsel erkundet – nicht nur in Bezug auf die Berge, sondern auch als kulturelles, menschliches, historisches, religiöses und ethnographisches Phänomen.

Frage: Wie lassen sich die Verfluchten Berge, die ‚Prokletija‘, mit den anderen Bergen vergleichen, die Sie besucht haben?

Ivan: Die Antwort ist einfach – unvergleichlich.

Frage: Was ist an diesen Bergen so besonders?

Ivan: Ich weiß es wirklich nicht, aber ich glaube, es war Liebe auf den ersten Blick. Schon bevor ich sie sah, hatte ich nur den Namen auf der Karte gesehen und zu mir selbst gesagt: ‚Das ist es.‘ Und ich lag nicht falsch.

Virtyt: Wer hat den Namen also vergeben?

Ivan: Ich denke, der Name wurde von der einheimischen Bevölkerung vergeben. Während der türkischen Zeit lebten nicht nur Albaner im heutigen Albanien, Kosovo und Montenegro, sondern auch slawischsprachige Bevölkerungsgruppen, wie man sie heute nennen mag – Serben, Montenegriner oder Bosniaken. Gusinje zum Beispiel war, wie Ami Boue, der erste ausländische Wissenschaftler, der die Prokletija durchquerte, feststellte, eine der gefährlichsten Städte des Osmanischen Reiches. Sie war von vielen Flüchtlingen und Kriminellen bewohnt, die Blutfehden oder strafrechtlicher Verfolgung durch die Behörden entflohen waren. Diese Stadt, die das Tor der alten Hauptkarawanenroute in der Prokletija bildete, war von Bosniaken, Serben und Albanern bewohnt – sowohl Muslimen als auch Katholiken. Für mich ist es also ein Name, der kollektiv vergeben wurde, wobei jede ethnische Gruppe ihre eigene Sprache verwendete. Deshalb heißt es auf Albanisch Bjeshket e Nemuna, auf Serbisch Prokletije und sogar auf Bulgarisch Prokletia.

Virtyt: Glauben Sie also, dass der Name von Gusinje stammt, das ein gefährlicher Ort war, und dass daraus der Name für das gesamte Gebirge abgeleitet wurde?

Ivan: Nein, für mich liegt der Name und dessen Ursprung zunächst in der physischen Geographie: unwegsames Gelände, Wassermangel und erschreckende Anblicke. Wenn man von Gusinje nach Theth geht – dies ist die oben erwähnte alte Karawanenroute von Peja nach Shkodra – sieht man die ganzen steilen, zerklüfteten Kalkstein-Gipfel. In sozialanthropologischer Hinsicht stammt der Name jedoch definitiv von den harten sozialen Regeln der einheimischen Bevölkerung, hauptsächlich der Albaner. Ich meine den Kanun von Lekë Dukagjin als ein reines Beispiel mit seiner dauerhaften ‚gjakmarrja‘ (Blutfehde) und all diesen strengen Regeln, die aufgrund der harten und armen Lebensbedingungen entstanden sind.

Virtyt: Viele Menschen, die in diesen Bergen wandern, heben die Vielfalt als einen der größten Reichtümer dieser Berge hervor, da sie nicht so riesig wie der Himalaya sind und dennoch auf kurzer Distanz unterschiedliche Landschaften und Ausblicke bieten. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ivan: Als Bergsteiger habe ich hauptsächlich die höchsten Teile der Berge bestiegen, aber die Schlussfolgerung dieser Leute ist absolut richtig, denn in diesen Bergen hat man natürlich alles. Es gibt unzugängliche Gipfel, wunderbare grüne Täler – man hat einfach alles. Für mich jedoch ist das Wichtigste die Bevölkerung, nicht nur die Berge. Deshalb kann ich mit der Hand aufs Herz sagen, dass ich nie Probleme mit der einheimischen Bevölkerung, überwiegend mit Albanern, hatte – weder im Kosovo, noch in Albanien, noch in Montenegro. Niemals und nirgends.

Virtyt: Um es kurz abzuschließen: Glauben Sie, dass die Berge durch Overtourismus gefährdet sind?

Ivan: Leider muss ich sagen: Ja. Vor zwei Jahren wurde ich für eine Dokumentation über das Wasserkraftwerk Valbona interviewt, und meine Meinung hat sich seitdem nicht geändert. Ja, dieses Gebirge muss geschützt werden – in der Realität, nicht nur virtuell, wie es zum Beispiel seit 1966 in Albanien der Fall ist. Es muss im Sinne des nachhaltigen Tourismus geschützt werden, denn es ist sehr empfindlich. Schaut man sich die Wasserressourcen an – sie sind knapp. Schaut man sich die Vegetation an – sie ist sehr empfindlich. Und zuletzt: ‚Bjeshkët e Nemuna‘ ist das einzige Gebirge in Europa neben den Alpen, das Gletscher hat – also muss auch das geschützt werden.

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